
Logbuch Alaska_Seadeleare / UEE Standartzeit 013.08.2955 - 017:40 / An Bord der "Lütten" Umlaufbahn um Pyro I.V.
Wir hatten noch ein zweites Schießtraining. Oder besser gesagt: ein Gefechtstraining.
„Orbituary“, sagte Luana knapp, als wir im Hangar standen. „Dort fliegen wir hin.“
Ich wusste nicht, was mich erwartete – und schon gar nicht, dass diese heruntergewirtschaftete Raumstation in Pyro eine derart ausgefeilte Simulationstechnik beherbergte. Später erfuhr ich, dass die Software ursprünglich von der UEE entwickelt worden war, um Soldaten auf den Ernstfall vorzubereiten.
Es gab verschiedene Szenarien – manche belanglos, andere an der Grenze des Erträglichen. Für mich war es eine Belastungsprobe, die mich an meine Schmerzgrenze brachte. Die Simulationen waren so realistisch, dass mir das Herz in die Hose rutschte.
„Ist schon okay, was du da machst“, meinte Lyrana nach einer Pause. „Aber ein richtiger Fußsoldat wirst du wohl nie.“
Pike dagegen verwandelte sich in einen regelrechten Berserker. Er stürmte durch die Räume, als hätte er nie etwas anderes getan. Vielleicht konnte er einfach zwischen Simulation und Realität trennen – etwas, das mir unmöglich schien.
Ich? Ich hatte einfach Angst, getroffen zu werden.
Aber immerhin lernte ich, mit der Situation umzugehen. Mein bevorzugtes Szenario war das eines Scharfschützen. In einem Computerspiel würde man mich wohl einen Camper nennen – hier war es Überlebensinstinkt. Doch fürs Erste hatte ich genug von Schießtrainings. Immerhin wusste ich nun, wie ich mich im Gelände bewegen musste, um nicht sofort aus dem Spiel genommen zu werden – und vor allem, um meiner Gruppe nützlich zu sein.
Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass wir dieses Training bald brauchen werden. In letzter Zeit geschah zu viel Seltsames.
Unsere neue „Lütte“ barg Geheimnisse. Die Geschichte, in die dieses Schiff verstrickt war, könnte uns noch die eine oder andere böse Überraschung bereiten. Die seltsamen Todesfälle an Bord der ehemaligen „Lament“ – Selbstmorde, heißt es – wirkten auf mich wie das Resultat einer Ursache, die nicht im Schiff selbst lag. Freischärler, Piraten, Soldaten? Wer weiß.
Dazu kamen die merkwürdigen Erlebnisse einiger Besatzungsmitglieder – allen voran Brubacker. Sie sahen Dinge, hörten Geräusche, spürten eine unsichtbare Präsenz. Geschichten, die ich einst als Seemannsgarn abgetan hätte. Aber inzwischen… lache ich nicht mehr darüber.
Wir sind eine kleine Crew in einem tödlichen System, auf uns allein gestellt. Selbst Lyrana, die genau weiß, was zu tun ist, wenn eine Waffe gezogen wird, kann keine Sicherheit gegen etwas bieten, das sich nicht mit Blei bekämpfen lässt.
Ich hatte nie an Geister geglaubt. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Professor Hyperion wird sich umsehen, wenn ich ihm eines Tages erzähle, wie sich meine Weltsicht verändert hat.
Wir waren noch immer auf „Vatra“ und versuchten, im Auftrag der "Citizens for Prosperity" Mineralien zu finden. Das Ergebnis war bescheiden, aber immerhin ein Ergebnis.
Doch die Luft war raus. Katastrophen, Misserfolge, Spannungen in der Crew – meine eigene Resilienz war am Limit.
Und dann fand Friedrich im Laderaum einen Rucksack. Niemand konnte ihn zuordnen. Darin: Ausrüstung, ein Datenstick – und plötzlich eine neue Richtung für unsere Reise.
Hermi nahm den Stick, spannte seine Finger über die Konsole und murmelte: „Mal sehen, was du zu erzählen hast, Kleiner.“
Er entschlüsselte eine Karte und einen Funkspruch. Die Karte zeigte ein Inselgebiet ohne Koordinaten – nur mit einer Markierung: „OM-5“.
Der Funkspruch… Zwei Stimmen, Mann und Frau. Die Frau klang klar, als stünde sie direkt neben dem Aufnahmegerät. Die Stimme des Mannes dagegen brach immer wieder ab, verzerrt durch Rauschen und Knacken. Sie sprachen über eine Havarie. Über ein Ereignis, das vermutlich die „Lament“ ins Spiel brachte.
Der Mann schien Gewissensbisse zu haben. Die Frau hingegen brach das Gespräch ab, als es auf den Kern der Sache zulief. „Hör auf zu Reden“, sagte sie scharf. „Das bleibt unter uns.“
Ich roch eine Vertuschung.
Hermi arbeitete weiter an der Karte. „Pyro IV, OM-5“, sagte er schließlich. „Scheint Pyro I.V. zu sein. Inseln. Linien sind Flugrouten. .“
„Also von Minern zu Schatzsuchern?“ grinste Pike.
Ich seufzte. „Oder von Forschern zu Idioten.“
Doch meine Neugier war geweckt.
Von „Vatra“ nach Pyro I.V. OM-5 war es nur ein kurzer Flug. Die Nachtseite von Pyro IV nahm uns auf, und die „Lütte“ flog wie ein glühender Backstein durch die Atmosphäre.

„Da“, rief Hermi und deutete auf die Inseln unter uns. Brubacker meldete Lichterscheinungen – vielleicht startende Schiffe, vielleicht Scheinwerfer.
Pyro IV war atemberaubend schön."Vatra" war schon mehr als nur klaustrophobisch für uns gewesen. Das hier fühlte sich an wie Urlaub. Die Urlaubsgefühle verflogen schnell, als uns ein Geschützturm unter Beschuss nahm. Im Schutze einer Schlucht konnte Hermioth die "Lütte" langsam bis auf einen Kilometer an diese Bodenstation heranfliegen ohne dass sie weiter beschossen wurde. - Landung.
Da war sie also, die Situation, die ich befürchtet hatte. Glücklicherweise hatte ich noch etwas „Lux“ in meinem Rucksack. Dieses Zeug stillt den Durst und stärkt gleichzeitig. Bei dem Gedanken, jetzt ohne Übung ernsthaft mit gezogener Waffe auf dieses Gelände zu gehen, wurden meine Beine weich. Ich musste tief Luft holen und einen ordentlichen Schluck dieser synthetischen Brühe in mich hineinfließen lassen. Danach ging es einigermaßen.
Wir teilten uns in zwei Gruppen auf. Ich gehörte logischerweise der Nachhut an – war mir auch lieber. Der Turm, der das Schiff beschoss, schien unermessliche Energiereserven zu haben. Er feuerte ununterbrochen, obwohl die „Lütte“ längst hinter einem Bergrücken verschwunden war. Als wollte der Schütze sich mit seinen Kanonen durch den Berg fräsen.
Hermi, der sich mit IT-Systemen und Soldaten gleichermaßen gut auskennt, vermutete, dass es sich um eine KI handeln könnte, die ihre Aufgabe nicht mehr ordnungsgemäß erfüllte. Wir ließen die Explosion der auftreffenden Energiesalven hinter uns und näherten uns vorsichtig – teilweise dilettantisch – der Station. Eine riesige Anlage. Mehrere Landepads, Frachtaufzüge, Servicegebäude. Ein großer Turm in der Mitte, wohl für Funk- und Ortungsaufgaben vorgesehen. Da waren Millionen Credits versenkt worden. Sah nicht aus wie ein Piratennest, eher wie eine Industrieanlage, die aus geheimhaltungsgründen in Pyro errichtet worden war.
Jetzt wurde mir wirklich mulmig. Ich hatte vor langer Zeit schon Erfahrungen mit Megakorps gesammelt und meine Meinung dazu gebildet. Und das hier sah genauso aus: Ein Unternehmen mit scheinbar unendlichen Ressourcen, das auf abgelegenen Planeten in vergessenen Sonnensystemen riesige Anlagen baut und diese mit KI-gesteuerten Energiewaffen schützt.
Geht die Fantasie mit mir durch? Ich ertappte mich dabei, wie ich völlig selbstverständlich durch die Zielvorrichtung meines Gewehrs die Anlage beobachtete und nach Lebenszeichen absuchte.
So, mein Lieber! Jetzt bist du mittendrin in der Abenteuergeschichte. Und es scheint ja sogar Spaß zu machen! Naja, kein Spaß im üblichen Sinn – eher ausufernde Neugier. Die habe ich schon. Wäre ich bereit, dafür Gefahren von Leib und Leben einzugehen? Und die anderen? Sind sie bereit? Zu spät! Jetzt bin ich mittendrin und nicht nur dabei. Also weiter. Ich muss den anderen vertrauen. Das wird schon klappen.
Durch mein Zielfernrohr konnte ich die ganze Zeit über kein einziges Lebenszeichen erkennen. Die Anlage wirkte vollkommen in Betrieb, einzelne Teile der Liegenschaften hell erleuchtet – und doch irgendwie tot. Ob hier eine Katastrophe stattgefunden hatte?
Mir ging dieser Funkspruch nicht mehr aus dem Kopf. Ein Test, der möglicherweise schiefgegangen war und Menschenleben gekostet hatte. Sollte diese Anlage etwas damit zu tun haben? Die Gleichzeitigkeit des Kartenfundes und des Funkspruchs legte den Verdacht nahe.
An den Gebäuden prangten drei Buchstaben: A.S.D.
Ich hatte von ihnen gehört. Waffenentwickler, der UEE lästig, aber nützlich. Forscher, die jenseits der Gesetze experimentierten. Keine angenehme Gesellschaft.
Vorsichtig näherten wir uns dem ersten Gebäude. Es war ein Frachtaufzug, wie er auch in Stanton vollkommen üblich war. Wir konnten nichts entdecken. Ich sah mir noch einige Container an, die dort herumstanden, fand aber keine Hinweise auf Absender oder Empfänger, geschweige denn auf den Inhalt. Alles verschlossen.
Friedrich und die anderen liefen geradewegs auf ein Forschungslabor zu. Ich musste versuchen, Anschluss zu halten. Seltsam – Lyrana hatte mir etwas anderes über das Bewegen im Gelände erzählt. Egal! Hinterher!
Die Gruppe versammelte sich vor einer Treppe, die in das Forschungslabor führte. Friedrich konnte einige Personen entdecken – vermutlich Wissenschaftler oder Ingenieure, die ihrer geheimen Tätigkeit nachgingen. Keine Wachen. Es wäre ein Leichtes gewesen, hineinzugehen und diese Leute zur Rede zu stellen. Doch das wäre wohl eine sehr kurzsichtige Handlung gewesen. So schnell kann niemand blinzeln, wie jemand über ein „Mobi-Glas“ einen Alarm auslösen kann.
Jetzt stellte sich heraus, dass wir wirklich keine Profis waren. Wir lungerten quasi vor der Treppe herum, unfähig zu entscheiden, was als Nächstes zu tun sei. Hermi wollte unbedingt, dass Friedrich jetzt das Kommando übernimmt. Schließlich sei er der Expeditionsleiter und müsse die Verantwortung tragen. Friedrich dagegen fing an zu stottern und stammelte etwas von Demokratie und Abstimmung.
Mir fiel alles aus dem Gesicht – nicht, weil Friedrich sich verhielt wie ein normaler Zivilist, sondern weil Lyrana dabei stand und kein Wort sagte.
Ein Stein fiel mir vom Herzen, als es hieß: Rückzug!
Wir versuchten wieder, im Schatten von Felsen und Geländeerhebungen das Gelände zu verlassen. Ich war froh, dass wir nicht die Konfrontation gesucht hatten. Allein weil mir überhaupt nicht klar war, was passiert wäre, wenn wir diese Wissenschaftler versehentlich verletzt oder gar getötet hätten. Wenn es tatsächlich Wissenschaftler oder Techniker von ASD waren, wären wir in Pyro nicht mehr sicher gewesen.
Und wenn dies eine geheime Anlage war, wäre sie durch uns entdeckt worden. Also mussten wir unser Tun so gut verheimlichen, wie es nur möglich war.
Zurück auf der „Lütten“ klopfte mein Herz bis zum Hals. Wir hatten nichts gewonnen – außer der Erkenntnis, dass wir mitten in etwas geraten waren, das größer war, als uns lieb sein konnte.
Ich weiß nicht, ob wir beim nächsten Mal so glimpflich davonkommen.
Alaskalog Ende